Keine Angst, aus dem Schondorf Blog ist nicht über Nacht ein Chemie Blog geworden. Mit dem Thema Zellulosenitrat beschäftige ich mich nur deswegen, weil in den Ruinen der Nitrocellulose-Fabrik Landsberg im Mai eine Kunstaktion stattfindet. Kunst hält Wache (https://www.kunst-haelt-wache.de/) setzt sich mit dem Thema „75 Jahre Frieden im eigenen Land“ auseinander. Veranstaltungsort ist die Alte Wache, das Eingangsgebäude des einstigen Fabrikgeländes.
Was ist Nitrocellulose?
Die Fabrik im Frauenwald wurde 1939 von den Nazis errichtet, um Nitrocellulose herzustellen. Da wurde ich natürlich neugierig, was das eigentlich für ein Stoff ist. Dabei habe ich gelernt, dass es korrekt eigentlich Cellulosenitrat heißen muss, weil es sich um einen Salpetersäureester der Cellulose handelt. Aha.
Für diese chemische Verbindung gab es zwei hauptsächliche Verwendungszwecke. Der eine davon war Schießpulver für Artilleriegranaten.
Die Nitrocellulose-Fabrik gehörte also zum Rüstungsprogramm des NS-Regimes. Darum liegen die einzelnen Gebäude relativ weit verstreut in einem aus der Luft schwer einsehbaren Waldgebiet. Es ist auch kein Zufall, dass die Flachdächer mit Gras und Sträuchern bewachsen sind. Das war so geplant, um die Anlage gegen Bomberangriffe zu tarnen.
Hochexplosiv und brandgefährlich
Die zweite wichtige Anwendung von Nitrocellulose war damals die Herstellung von Zelluloid, dem Trägermaterial von Filmen. Damit steht die Nitrocellulose-Fabrik gleich für zwei tragende Säulen der NS-Herrschaft, nämlich militärische Gewalt und Propaganda. Die Nazis haben bekanntlich Filme sehr konsequent zur Verbreitung ihrer Ideologie eingesetzt. Beispielsweise inszenierte Leni Riefenstahl in Triumph des Willens den Reichsparteitag von 1934 als fast schon religiöses Ereignis. Spielfilme wie Jud Süß von Veit Harlan sollten dem Antisemitismus eine pseudohistorische Rechtfertigung geben.
Ist es nicht ironisch: Nicht nur der propagandistische Inhalt dieser Streifen, auch das Zelluloid selber war brandgefährlich. Deshalb wurde es in den 50er Jahren durch ungefährlichere Kunststoffe ersetzt.
Die Nitrocellulose-Fabrik Landsberg bietet also vielfältige Ansätze, um sich mit den Themen Krieg, Gewalt und Diktatur auseinanderzusetzen. Ich bin schon gespannt darauf, wie die einzelnen Kunstinstallationen auf diese Aspekte eingehen werden.
Wachen statt baden
Und was hat das Ganze nun mit Schondorf und dem Ammersee zu tun? Der Veranstaltungsort ist zwar Landsberg, aber im Organisationsteam sind etliche Leute vom Ammersee. János Fischer, Andreas Kloker, Harry Sternberg, Axel Wagner und einige andere aus der hiesigen Kunstszene sind mit dabei.
Im Prinzip ist es der Kern der Truppe, die letzten April das zauberhafte Kunst geht baden im Greifenberger Warmbad inszeniert hat (Nur für immer).
Auch bei Kunst hält Wache werden wieder abbruchreife Räume mit Bildern, Skulpturen, Videos und Installationen bespielt, die sich mit der Geschichte des Ortes auseinandersetzen. Im Schwimmbad war das alles sommerlich leicht, beschwingt und humorvoll. Dieses Mal ist das Thema deutlich ernster.
Kunst hält Wache
30. April – 10. Mai 2020
jeweils Donnerstag bis Sonntag, 10:00 – 22:00 Uhr
Iglinger Strasse 70
Landsberg am Lech
https://www.kunst-haelt-wache.de/