Ein Lied für die Vermissten

Am 3. September 2020 liest der deutsch-libanesische Autor Pierre Jarawan auf Einladung der Buchhandlung Timbooktu im Landheim Schondorf. Als ich davon erfahren habe, war mein erster Gedanke: „Ja mei.“ Was Literatur angeht, haben sich bei mir nämlich im Lauf der Zeit etliche Vorurteile angesammelt. Beispielsweise stelle ich mich bei Büchern aus Österreich von vornherein auf grantige Beschimpfungen ein (Alte Meister im Studio Rose), und an russischen Romanen fürchte ich die verwirrende Menge an Figuren mit für mich kaum auseinander zu haltenden Familiennamen (Rostow, Kutuzov, Dolochow, Bezukhov …).

Literatur aus dem arabischen Raum steht bei mir unter dem Generalverdacht eines wohligen Exotismus. Oft genug sind schon die Umschläge mit Arabesken verziert, und der Stil im Buch ist dann genauso verschnörkelt.

Temporeich und schnörkellos

Wie gesagt, das sind Vorurteile. Sehr erfreut habe ich deshalb festgestellt, dass Pierre Jarawan nicht in dieses Klischee passt (https://www.pierrejarawan.de/). Selbst der renommierte Guardian lobt, sein Stil sei „temporeich und schnörkellos, mit einer mitreißenden Erzählstruktur“ (https://www.theguardian.com/books/2019/apr/28/storyteller-pierre-jarawan-review-lebanon).

Der Autor Pierre Jarawan
Photo @ Marvin Ruppert

Das liegt vielleicht daran, dass der in München lebende Jarawan nicht die klassische Literatenlaufbahn hinter sich hat. Er begann als Slam-Poet, wo er es bis zum deutschsprachigen Meister und WM-Teilnehmer brachte. Heute bietet er jungen Talenten beim Isar Slam eine Bühne, veranstaltet Workshops, und hat seine Liebe zur Photographie entdeckt.

Sprache, die es ernst meint

Ich glaube, so etwas prägt den eigenen Stil. Erfolgreiche Poetry Slam Auftritte und auch gelungene Photos brauchen ein natürliches Gespür für das richtige Timing, dürfen nicht zu wenig und keinesfalls zu viel erzählen. Bei einem seiner Auftritte bringt es Jarawan sehr schön auf den Punkt: „Sprache kann in ihrer Einfachheit begeistern, wenn man sie nur ernst meint.“

Dass er es ernst meint, zeigt Jarawan in seinem Buch Ein Lied für die Vermissten. Es geht um das Land seines Vaters, den Libanon. Dieser galt bis in die 1970er Jahre als die „Schweiz des Nahen Ostens“. Beirut war ein internationaler Finanzplatz, eine elegante Verbindung von Arabischem und Europäischem, und der Stadtteil Gemmayzeh war als Künstlerviertel so angesagt wie Montmartre oder Greenwich Village.

17.000 Vermisste

Pierre Jarawan: Ein Lied für die Vermissten

Dann kam der Bürgerkrieg, an dessen Folgen das Land bis heute leidet. Rund 17.000 Menschen gelten seither offiziell als vermisst. Genau nachforschen mag niemand, denn alle Beteiligten haben noch Leichen im Keller liegen, nicht nur im übertragenen Sinn. Es ist in ein Land, in dem viele alte Wunden nur überdeckt, aber nie verheilt sind.

Auch der Erzähler in Ein Lied für die Vermissten hat diese Vergangenheit lange verdrängt. Dann erhält er eine Nachricht, die alte Erinnerungen wieder lebendig werden lässt, und er macht sich auf die Suche nach der Geschichte seiner Familie. Seine Großmutter beschreibt den Libanon einmal als ein Haus mit vielen Zimmern: „In einigen Räumen wohnen die, die sich an nichts erinnern wollen. In anderen hausen die, die nicht vergessen können.“

Lesung Pierre Jarawan

3. September 2020, 19:30 Uhr
Landheim Schondorf
Schondorf am Ammersee
Anmeldung erforderlich unter https://www.timbooktu-ammersee.de
Eintritt € 12,-
Der Erlös der Veranstaltung geht an die Opfer der Explosionskatastrophe in Beirut

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