Von Bayern nach Litauen und zurück

Der Kapellentag der Ammerseerenade begann heuer in der Kirche St. Jakob in Schondorf mit einem Konzert des Kaunas String Quartet (https://www.kaunokvartetas.lt/en/). Das war nicht nur eine Reverenz an die Stadt in Litauen, die heuer Europäische Kulturhauptstadt ist. Das Konzert würdigte auch eine heute fast vergessene historische Verflechtungen zwischen Litauen und Oberbayern.

Das Kaunas String Quartet

Auf den Kapellentag der Ammerseerenade, und speziell auf das Eröffnungskonzert, hatte ich mich schon sehr gefreut (Musikalischer Kapellentag am Ammersee). Zum einen ist St. Jakob ein wundervoller Raum für stimmungsvolle Darbietungen. Zum anderen genießt das Kaunas String Quartet einen internationalen Ruf und spielt normalerweise auf wesentlich größeren Bühnen. Außerdem war es natürlich spannend, Musik von mir bis dato unbekannte Komponisten zu hören.

Kaunas String Quartet bei der Ammerseerenade 2022
Das Kaunas String Quartet mit Ammerseerenade-Organisatorin Doris Pospischil (rechts)

Ich wurde nicht enttäuscht. Der romanische Bau von St. Jakob ist einfach ein magischer Ort für ein Konzerterlebnis. Das Streichquartett aus Litauen spielte eindringliche Musik von der Klassik bis zu zeitgenössischen Kompositionen. Mich erinnerte die frische Spielweise der Vier stellenweise an das Kronos Quartet oder das Ensemble von Alexander Bălănescu. Wer jetzt neugierig geworden ist, sollte sich die Videos vom Konzert auf Aloys.News ansehen und anhören: https://aloys.news/de/blog/kultur/begeisterter-applaus-und-volles-haus-beim-eroeffnungskonzert-des-hofkapellentages

Das Lager Kaunen

So weit, so gut. Aber auch die Hintergründe des Konzertes sind sehr interessant. Die Einladung des Kaunas String Quartet war kein Zufall, wie Organisatorin Doris Pospischil in ihrer Einführung erklärte.

Im litauischen Kaunas richtete das NS-Regime 1941 ein Ghetto und später ein Konzentrationslager ein. In dieses, von den Besatzern als KZ Kaunen eingedeutschte Lager wurden viele jüdische Mitbürger aus der Stadt und dem Umland von München deportiert (https://www.merkur.de/lokales/muenchen-lk/unterhaching-ort29619/nazi-opfer-von-kaunas-aus-landkreis-muenchen-9936128.html). Tausende wurden dort ermordet. Als 1944 die Rote Armee anrückte, wurden die Überlebenden abtransportiert. Teilweise kamen sie in das KZ Auschwitz, teilweise zurück nach Oberbayern, in das KZ Außenlager Kaufering.

Liberation Concert in St. Ottilien

Nach der Befreiung durch amerikanische Truppen kamen die Überlebenden in die als Spital genutzte Erzabtei St. Ottilien. Darunter befanden sich auch einige Musiker, die sich zu einem Orchester zusammenschlossen. Mancher von ihnen war erst von München nach Kaunas verschleppt, und nun von Litauen nach Bayern zurückgebracht worden. Sie nannten sich “Orkester fun der Szeerit Hapleitah”, der Rest der Überlebenden.

Kloster St. Ottilien
Die eindrucksvolle Anlage des Klosters St. Ottilien

Noch in Häftlingskleidung und mit provisorisch zusammengeflickten Instrumenten spielten sie schon am 27. Mai 1945 ein Befreiungskonzert. Sie zeigten, dass der Terror der Nazis ihren Lebenswillen nicht hatte brechen können. 77 Jahre später lässt die Ammerseerenade dieses Liberation Concert in St. Ottilien wieder aufleben.

Welturaufführung von „Liberation“

Die Musiker aus Litauen sind also mit viel Bedacht an den Ammersee eingeladen worden. Der Auftakt in St. Jakob bildet zusammen mit dem Liberation Concert im Kloster St. Ottilien eine Klammer, welche die Ammerseerenade in einen historischen Kontext stellt.

Die Violinistin Isabelle Faust spielt bei der Ammerseerenade 2022
Die Violinistin Isabelle Faust (Foto © Felix Broede)

Das Liberation Concert mit Star-Geigerin Isabelle Faust findet am 1. September in St. Ottilien statt. Hier gibt es auch ein Wiedersehen mit dem Kaunas String Quartet. Das Streichquartett spielt als Welturaufführung das Stück Liberation, das der israelische Komponist Eliav Kohl speziell für die Ammerseerenade geschaffen hat.

Angeblich gibt es noch einige wenige Restkarten für diese Aufführung (obwohl Auftritte von Isabelle Faust sonst schon kurz nach der Ankündigung ausverkauft sind). Einfach mal bei ticket@ammerseerenade.de nachfragen.

1 Gedanke zu „Von Bayern nach Litauen und zurück“

  1. Als St. Ottilien unmittelbar nach Kriegsende als Spital fungierte, starben etliche Überlebende der Schoah – nicht durch Unterversorgung, sondern im Gegenteil durch gut gemeinte, aber unangemessene Ernährung. Die völlig ausgemergelten ehemaligen KZ-Häftlinge waren einfach nicht in der Lage, die Speisen, die man ihnen vorsetzte, zu verstoffwechseln. So erklären sich die auffallend zeitgleichen Sterbedaten der auf dem jüdischen Friedhof von St. Ottilien Begrabenen. Tragisches Unglück im Glück!

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