Die Schondorfer Selbsthilfegruppe Amor Fati feiert ihr einjähriges Jubiläum, denn am 20. April 2022 fand das erste Treffen statt. Initiator Simon Gall war so nett, mir mehr über diese Initiative für mentale Gesundheit am Ammersee-Westufer zu erzählen.
Meine Vorurteile
Simon Gall hat die Gruppe gegründet, weil er selbst an Depressionen erkrankt ist (https://simonellosworld.de/). Dabei entspricht er so überhaupt nicht dem gängigen Klischee. Ich ertappe mich bei meinen eigenen Vorurteilen: Depressive sind doch sicher trübselige Gestalten, die den ganzen Tag traurig zu Hause sitzen.
Gall dagegen ist ein gestandenes Mannsbild, das man sich gut in Lederhosen im Bierzelt vorstellen kann. Er arbeitet tüchtig in der elterlichen Metzgerei, ist eloquent und weitgereist, hat in den USA und China gelebt.
Spontan denke ich an Winston Churchill. Auch der litt unter Depressionen, obwohl er nach außen hin der wortgewaltige, durchsetzungsstarke Staatsmann war. Seine Krankheit beschrieb er als einen schwarzen Hund, den er in Zaum halten musste. Das brachte uns auf die Idee für das Foto mit schwarzem Hund, den wir praktischerweise im Haus haben.
Liebe zum Schicksal
Anders als der britische Politiker spricht Simon Gall offen über seine Erkrankung. Daraus entstand dann auch die Idee für die Selbsthilfegruppe Amor Fati. Der Begriff des Amor Fati, der Liebe zum eigenen Schicksal, geht auf die Philosophie der antiken Stoiker zurück. Geprägt hat ihn allerdings Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert. Vereinfacht gesagt geht es darum, nicht mit dem eigenen Schicksal zu hadern, wie schwer es auch sein mag. Im Gegenteil wollen die Stoiker dieses Schicksal liebevoll annehmen, und als Chance für Wachstum und Entwicklung begreifen.
Nun ist Amor Fati kein philosophischer Debattierclub, sondern eine Gruppe, in der an Depression erkrankte Menschen ihre Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig helfen. Das ist gerade deshalb wichtig, weil zu der seelischen Last oft auch noch das Unverständnis der anderen hinzukommt.
Auch Ratschläge sind Schläge
Wenn den Betroffenen die Tage unerträglich drückend und grau sind, hören sie oft Ratschläge wie „Geh‘ doch mal nach draußen“ oder „Reiß dich einfach zusammen“. Das mag gut gemeint sein, macht es für die Erkrankten aber noch schwerer. „Auch Ratschläge sind Schläge“, sagt Simon Gall.
In der Selbsthilfegruppe Amor Fati dagegen ist das Gespräch auf Augenhöhe. Alle wissen, wie sich ein Depressionsschub anfühlt, und dass man in dieser Situation vor allem Verständnis und Empathie braucht. So können untereinander Tipps und Erfahrungen ausgetauscht werden: Was hat wem geholfen, wer hat wo Hilfsangebote gefunden?
Bedürfnis nach Hilfe
Wie groß das Bedürfnis an Beratung und Hilfe ist, zeigt die Entwicklung der Selbsthilfegruppe Amor Fati. 2021 stellte Gall die Idee erstmals in der Schondorfer Gemeindezeitung Einhorn vor (https://www.schondorf-ammersee.de/fileadmin/download_schondorf/Einhorn/einhorn_1-2022.pdf#page=4). Es folgten mehrere Berichte in der Presse, und selbst der Bayerische Rundfunk berichtete darüber im Rahmen eines Podcast zum Thema Suizidprävention (https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/notizbuch/suizidpraevention-wie-laesst-sich-suizid-verhindern-100.html).
Das Echo überstieg alle Erwartungen. Die Mailingliste von Amor Fati erreicht heute rund 150 Mitglieder, in allen Altersgruppen von 20 bis 70 Jahren. Zu den wöchentlichen Treffen im Dorfhaus in der Bahnhofstraße kommen regelmäßig 15 – 20 Personen. Simon Gall hat Schulungen besucht, um solche Gruppen zu moderieren, und dann einfach aus der Praxis gelernt.
Gelebtes Amor Fati
Aber die Gruppensitzungen sind nicht der Schlusspunkt. Inzwischen ist Gall auch in regelmäßigen Netzwerktreffen mit anderen Selbsthilfegruppen, kooperiert mit dem Starnberger Verein Mutmachleute, und ist seit kurzem im Vorstand des Vereins Rettungs Ring (https://rettungs-ring.de). Außerdem klärt er weiter über das Thema seelischer Erkrankungen auf, beispielsweise bei Vorträgen im Rotary Club, im Landheim Schondorf oder vor Mitgliedern des Landsberger Kriseninterventionsdienstes.
Das Logo von Amor Fati hat er sich nicht ohne Grund auf den Arm tätowieren lassen: Er verwirklicht die Idee dahinter in seinem eigenen Leben. Simon Gall nutzt die Erfahrungen aus seiner Erkrankung, um anderen zu helfen. Amor Fati – das eigene Schicksal als Chance, sich zu entwickeln und zu wachsen.