Der Advent kommt immer so plötzlich. Gerade haben wir uns noch beim Sammersee-Festival in der Sonne geräkelt, plötzlich sind es nur noch wenige Wochen bis Weihnachten. Normalerweise verwandelt in dieser Zeit Andreas Kloker das kleine Atelier in der Schondorfer Bahnhofstraße 38 in ein Skriptorium. Das Schaufenster wird dann zum literarische Adventskalender mit täglich neuen Texten (siehe Poesie in der Bahnhofstraße).
Der Advent kam zu plötzlich
Eigentlich hätte das auch heuer wieder so sein sollen. Angedacht war, Texte aus den Ländern und Sprachen zu veröffentlichen, die auch auf den Wänden des kleinen Häuschens zu sehen sind. Dann kamen aber andere Projekte dazwichen, die Zeit wurde knapp, und so fiel schließlich der Adventskalender aus.
Deine (Lieblings)gedichte
Schade, dachte ich mir, denn ich bin dort immer gern vorbeispaziert, um die tagesfrischen Gedichte zu lesen. Vielleicht können wir dieses Skriptorium aber hier zumindest virtuell entstehen lassen.
Schreibt doch einfach unten in die Kommentare eure Lyrik. Und wenn Du selber gar kein Händchen zum Dichten hast, teile eines deiner Lieblingsgedichte mit uns. Im Sinne des Skriptoriums gerne aus verschiedenen Teilen der Welt. Vielleicht etwas auf Spanisch oder Wolof, etwas von Rumi oder Tagore?
Ermunterung von Peter Altenberg
Ich mache mal den Anfang. Meine Sprachkenntnisse beschränken sich auf Deutsch, Englisch und Österreichisch, und ich habe mich für Letzteres entschieden. Dieses Gedicht des großen Cafehausliteraten Peter Altenberg ist eine Ermunterung, die eigenen Gedanken in die Welt hinaus zu lassen. Gib auf die feige Vorsicht…
Was der Tag mir zuträgt
Nicht dir und einem gib das Gute, das du gefunden auf deinen schweren Wegen, gib es allen!
Auf daß an deinem armseligen Erden-Wallen
der eine oder der andre Klärung finde!
Gib auf die feige Vorsicht, gleichgesinnten Herzen dich zu eröffnen
sei stark, wirf’s in die Welt!
Und wenn in Fernen eine zarte Seele
erbebt beim Wort, das du ins All verkündet,
so wird der Schauer dieser Milden, Sanften,
hindringen durch die Welten bis zu dir!
Peter Altenberg aus „Was der Tag mir zuträgt„
Die Sprache meiner Mutter
Die Außenmauer des Ateliers in der Bahnhofstraße. So wie hier sollten die Texte des heurigen Skriptoriums die kulturelle Vielfalt bei uns am Ammersee zeigen.
Passend zur Adventszeit ein Nikolausgedicht (von mir).
Nikolausgedicht
6. Dezember,
welch ein Graus.
Denn heute
kommt der Nikolaus.
Das ist dieser lästige Mann,
der so unverschämte
Fragen stellen kann.
Drohend baut er sich vor dir auf,
und deine innere Stimme sagt,
„lauf weg, Mensch, lauf.“
Doch wie festgenagelt steht du da
und hörst ihn fragen:
„Na, wie war‘s denn dieses Jahr?“
Natürlich fällt dir auch diesmal nichts ein,
dein Herz rast,
du leidest gar schreckliche Pein.
„Sag an“, geht‘s dann gleich weiter,
„warst du denn auch brav?“
Er schaut dich an und lächelt heiter.
Schweißperlen laufen dir den Rücken herab,
mit schlechtem Gewissen murmelst du „Ja“,
und er meint: „Das nehm ich dir nicht ab!“
Fröhlich kreisend schwingt er die Rute,
dabei ruft er laut:
„Aber trotzdem halt ich dir was zugute.
Du bist nur ein Mensch,
und strengst dich recht an,
auch wenn du Fehler machst, dann und wann.
Aber mach nicht immer wieder die gleichen,
es gibt genug andere,
die bis ans Lebensende reichen.
Das war‘s für heute“, grinst er und geht raus.
Am Himmel steht in weißen Wölkchen:
„Beste Grüße vom Nikolaus.“