So etwas kann wohl nur in Schondorf passieren. Beim Einkaufen im Edeka Schmidt treffen sich zufällig der Musiker Maxi Pongratz und der Bühnenbildner Erwin Kloker. Pongratz erzählt von seinem Projekt Musik für Flugräder, und dass er die Komposition gerne in Schondorf aufführen würde. Bis sie an der Kasse sind, sind sich die beiden einig: Kloker organisiert Spielort und Ausstattung, Pongratz trommelt seine Musiker zusammen. Und so kamen am 4. August Flugfahrräder mit Musikbegleitung nach Schondorf.
Der schwäbische Ikarus
Inspiration für das ganze Projekt ist der schwäbische Tüftler Gustav Mesmer, der sein Leben lang daran arbeitete, muskelbetriebene Flugfahrräder zu bauen. Mesmer wurde 1903 in der Gemeinde Altshausen bei Ravensburg geboren. Als junger Mann geht er ins Kloster, kommt aber nach einigen Jahren in seinen Heimatort zurück, und beginnt dort eine Schreinerlehre. Nachdem er in einer Kirche randaliert hat, attestiert ihm der Hausarzt der Familie kurzerhand Schizophrenie, und lässt ihn in die Nervenheilanstalt Schussenried einweisen.
Erst glaubt Mesmer, dass sich das ganze schnell aufklären würde, aber tatsächlich kommt er erst nach 35 Jahren wieder frei. In dieser Zeit zeichnet er immer wieder Konstruktionen für Flugmaschinen, die ihn über die Anstaltsmauern tragen sollen.
Erst nach seiner Entlassung 1964 kann er seiner Kreativität freien Lauf lassen. Mesmer kommt in den kleinen Ort Buttenhausen, wo er Flugfahrräder nach seinen Entwürfen baut. Die Leute im Ort mögen den etwas schrulligen, aber immer freundlichen Mann, den „Ikarus vom Lautertal“, wie sie ihn nennen. Sie organisieren Ausstellungen seiner skurrilen Erfindungen, und noch heute pflegt eine Gustav-Mesmer-Stiftung (https://gustavmesmer.de/) sein kreatives Erbe.
Einen Höhepunkt an Popularität erlebt der schwäbische Ikarus zwei Jahre vor seinem Tod. Bei der Weltausstellung 1992 in Sevilla ist im deutschen Pavillon eines seiner Flugfahrräder zu sehen.
Musik für Flugräder
Danach wird es wieder ruhig um den Flugradpionier. Das ändert sich erst, als der Musiker Maxi Pongratz auf Filmaufnahmen von Mesmers Flugversuchen stößt. Das inspiriert ihn, zusammen mit Micha Acher und einigen weiteren Freunden einen persönlichen Soundtrack zu diesen Filmen einzuspielen. Die Platte Musik für Flugräder nehmen sie an einem einzigen Tag im August 2020 in einer Live-Session auf.
Nun waren die beiden am 4. August in Schondorf, um Gustav Mesmer zu feiern. Maxi Pongratz (Kofelgschroa) und Micha Acher (The Notwist) muss ich wohl kaum vorstellen. Beide haben mit ihrer Mischung aus Volksmusik, Jazz und Psychedelic einen ganz eigenen Sound geprägt.
Für die gemeinsame Platte haben sie sich als Verstärkung eine Band zusammengestellt, die sich schlicht und einfach Verstärkung nennt. Sie besteht aus lauter hochkarätigen Musikern, wie zum Beispiel der Bläserin Theresa Loibl aka Tuby Tuesday, oder dem Uttinger Fagottisten Timm Kornelius, der 2022 den Kulturförderpreis des Landkreises Landsberg erhalten hat.
Landung am Bahnhof
Los ging es am Schondorfer Bahnhof, der sich inzwischen für Kulturveranstaltungen bestens bewährt hat (Hop-on/Hop-off Lesung im Bahnhof). Rund 150 Besucher bestaunten Mesmers fantasievollen Skizzen, mit denen die Wartehalle zu diesem Anlass dekoriert ist.
Eigentlich sehr passend, denn da die Bahnlinie für die nächsten Monate gesperrt ist, sollte man sich Gedanken über alternative Beförderungsmöglichkeiten machen.
Dann schwebte Erwin Kloker in luftiger Höhe auf seinem Flugfahrrad ein, drehte noch eine elegante Schleife um den Turm von St. Anna, und landete punktgenau vor dem Bahnhof. Zugegeben, der letzte Satz ist frei erfunden, aber so könnte man es sich vorstellen. Vorstellungskraft und Fantasie waren für Mesmer ohnehin viel wichtiger, als praktische Ergebnisse.
In der offenen Wartehalle wurde Klokers selbstgebautes Fluggerät ausgiebig bestaunt. Zwei Vertreter der Gustav Mesmer Stiftung, die für diese Ausstellung ihre Archive geöffnet hatte, gaben einen Einblick in Mesmers Leben und seine Persönlichkeit. Obwohl er über dreißig Jahre in Heilanstalten eingesperrt war, hatte er sich wohl bis an sein Lebensende eine ruhige Heiterkeit bewahrt.
Konzert mit Film
Nach dieser Einleitung wurde das Flugfahrrad in einer langen Prozession die Bahnhofstraße hinunterbegleitet. Hier, im Garten der Familie Kloker war schon alles für das Konzert vorbereitet. Erwin Kloker hatte extra eine Konzertmuschel aufgebaut, um den Klang auch ohne Elektronik zu verstärken, was wunderbar funktionierte. Zur Einstimmung gab es Filmaufnahmen von Mesmer bei seinen Flugversuchen. Diese Bilder waren die Inspiration für Pongratz‘ Musik.
Die Platte hatte ich davor schon gekannt, und kann sie unbedingt empfehlen (https://trikont.de/shop/artists/kofelgschroa/maxi-pongratz-micha-acher-verstaerkung-musik-fuer-flugraeder/). Live war es aber noch einmal ein intensiveres Erlebnis.
Weniger Bodenhaftung
Pongratz‘ Musik ist ganz weit weg von den glatt produzierten Popsongs, die für den Höhenflug in den Hitparaden optimiert sind. Sie klingt an manchen Stellen wie ein zögerndes Tasten, um den eigenen Rhythmus zu finden. Franz Kafka schrieb einmal, dass manche Unsicherheit nur auf diesem unsern Erdboden als Schwäche erscheine; dass doch zum Beispiel auch Flugbereitschaft ein Schwanken und Unbestimmtheit und Flattern sei.
So war auch die Musik. Kein selbstsicher durchkomponiertes Werk, sondern ein Schwanken und Flattern, das die Flugexperimente von Mesmer wunderbar in federleichte Töne übersetzte. So gingen viele nach dem Konzert etwas beschwingter nach Hause, mit weniger Bodenhaftung und Erdenschwere als an normalen Tagen.