Die 2018 verstorbene Susanne Sticker war im öffentlichen Leben von Schondorf sehr präsent. Sie leitete die hiesige Zweigstelle der Volkshochschule, war Gemeinderätin und baute die Bücherei im Ort auf. Ich habe sie als engagierte, meinungsstarke und wirklich nicht konfliktscheue Frau kennengelernt. So haben sie sicher auch viele andere Schondorfer in Erinnerung. Dass Susanne Sticker darüber hinaus auch eine sehr originelle Künstlerin war, habe ich erst später erfahren.
Zwei Seelenverwandte
Dem künstlerischen Schaffen von Susanne Sticker widmet der Verein Schondorfer Kreis, bei dem ich Mitglied bin, nun eine Ausgabe der Reihe Schondorfer Hefte (http://schondorfer-kreis.de/events/schondorfern-hommage-an-susanne-sticker/). Vorgestellt wird das Heft am 2. November in der Wartehalle des Bahnhofs, zusammen mit einer szenischen Lesung von Stickers Stück Dämmerung.
Initiiert hat das ganze Andreas Kloker. In künstlerischer Hinsicht sind er und Sticker seelenverwandte. Beide machen nicht die Art Kunst, die man typischerweise in Museen und Galerien findet. Über Kloker schrieb die amerikanische Kunstkritikerin Lori Waxman einmal, seine Arbeit hätte eine Bescheidenheit, die über ihre Tiefe hinwegtäusche (Worte wandern durch die Allee). Dasselbe gilt auch für Susanne Sticker.
Das Vergehen der Zeit
Das Vergehen der Zeit ist ein wiederkehrendes Motiv in Stickers Arbeiten. Beispielsweise als sie alle 675 Seiten von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz von Hand in Schulhefte abschrieb. Außer den Heften blieben als Zeugnis dieser Arbeit Gläser, gefüllt mit den Spänen aus dem Bleistiftspitzer.
Auch der von ihr gestrickte rot-weiß-rote Schal ist so ein Zeit-Zeugnis. Sticker hatte ein Faible für Hörbücher von österreichischen Autoren. Während sie deren Bücher hörte, strickte sie an einem Schal in den österreichischen Landesfarben. Die Werke von Thomas Bernhard oder Elias Canetti sind recht umfangreich, und so wurde der Schal länger und länger. Am Ende waren es rund neun Meter.
Susanne Sticker als Frau S.
Um Altern und Vergehen geht es auch in dem Stück Dämmerung, das am 2. November in der Schondorfer Bahnhofshalle als szenische Lesung aufgeführt wird. Eine Frau S. wird jede Woche von Micky Maus besucht, die an einem Bericht für den Bayerischen Rundfunk arbeitet. Die beiden sprechen über Kunst und Literatur, Handarbeit, Jahreszeiten und Außenseitertum.
Diese Frau S. hat Susanne Sticker mit viel Selbstironie als etwas schwierige, mürrische alte Dame gezeichnet. Obwohl Dämmerung einen melancholischen Grundton hat, steckt es voll witziger, skurriler Szenen, die an Ernst Jandl oder H. C. Artmann erinnern. Ich bin schon gespannt darauf, wie Gila Stolzenfuß und Katalin Fischer diesen Text auf die Bühne bringen werden.
Wer danach neugierig auf Susanne Sticker geworden ist, kann die aktuelle Ausgabe der Schondorfer Hefte erwerben. Sie enthält Fotos und Texte von und über Sticker, und gibt damit einen Einblick in ihr Leben und ihre ungewöhnlichen künstlerischen Projekte. Außerdem sind im November einige ihrer Objekte im Fenster des Skriptoriums (Bahnhofstraße 38) zu sehen.
Schon-dorf-ern – Hommage an Susanne Sticker
Szenische Lesung des Stücks „Dämmerung“
mit Katalin Fischer und Gila Stolzenfuß
Samstag, 2. November 2024, 18:00 Uhr
Wartehalle des Bahnhofs Schondorf
Eintritt frei, Spenden erbeten
In einer früheren Version dieses Beitrags war irrtümlich der Freitag genannt worden. Es ist aber tatsächlich Samstag, 2. 11. 2024.