Letzten Samstag habe ich mir in Schondorf das Stück Der Prolog des ELLE Kollektivs angesehen (http://ellekollektiv.de/). Ich hatte davor schon darüber spekuliert, um was es an dem Abend wohl gehen würde (Prolog statt Meditier). Wie erwartet, ist von meinen ganzen Vermutungen zu dem Stück nur eine einzige eingetroffen, nämlich dass es ganz anders wird.
Mit ihren letzten beiden Produktionen Der Erleuchthund und Die blondierte Stierin hat sich die Theatertruppe vom Ammersee einen Namen gemacht. Da ging es durchaus um ernste Themen und große Fragen, die in origineller Weise präsentiert wurden, als „immersives Dorftheater“ (so die Selbstbeschreibung).
Bekifft im Autoscooter
Für Der Prolog setzt das ELLE Kollektiv nun auf die Ästhetik von Stummfilm-Slapstick. Der ganze erste Teil der Aufführung ist etwa so, als würde man völlig bekifft in einem bonbonbunten Autoscooter herumkurven. Die Inszenierung deutet sogar etwas in der Richtung an. Aus dem Inneren eines Kleinlasters qualmen dichte Rauchschwaden, wenn die drei Phantasiegestalten auf die Naturbühne am Ufer des Ammersees fahren.
Leicht erkennen kann ich die Hauptfiguren der letzten beiden Produktionen, nämlich die Stierin (Elisabeth-Marie Leistikow) und den Erleuchthund (Luis Lüps). Der dritte im Bunde ist das Meditier (Louis Panizza). Sein Aussehen erinnert vage an afrikanische Masken, Manga-Figuren und R2D2. Mit ihm soll die Trilogie Die schlafende Vernunft nächstes Jahr schließen.
Rückwärts durch das Seitenfenster
Auf der Ladefläche ihres Autos haben die drei ein graues „Etwas“, auf dem Anhänger ein wackeliges Floß. Das Etwas soll auf das Floß, und das Floß soll ins Wasser. Das ist komplizierter als gedacht. Wie in den Klassikern von Buster Keaton oder Harold Lloyd führt hyperaktive Betriebsamkeit zu rasendem Leerlauf. Es dauert beispielsweise seine Zeit, um eine (kräftig furzende) Kuh rückwärts durch das Seitenfenster aus dem Auto zu ziehen. Gesprochen wird nicht, dafür wird jede Szene von Noel Riedel punktgenau mit Live-Musik untermalt. Es wird geschoben und gezogen, gekehrt, geklopft und geschraubt, getanzt und gesprungen. Schließlich ist das graue Etwas dann tatsächlich auf dem Floß und das Floß im Wasser.
Der Prolog als Filmprojektion
Als das Floß ablegt, wird eine Leinwand hochgezogen und wir verfolgen die weitere Reise als Film. Strenggenommen kein Stummfilm mehr, denn es werden ein paar Sätze gesprochen. Allerdings in einer (zumindest mir) unverständlichen Sprache, deren Übersetzung man auf Untertiteln verfolgt. Auf der Fahrt über den See suchen die drei den perfekten Ort für ihr graues Etwas. Dafür kommt eine Strahlenpistole zum Einsatz, die direkt aus einem Comic der 50er-Jahre stammen könnte.
Die drei Hexen aus Shakespeares Macbeth blitzen immer wieder mal auf: „Wo sie weh’n, die Küsten kann ich. Jeden Punkt und Zirkel nenn ich, auf des Seemanns Karte.“ Schließlich versenken die drei das Etwas im Ammersee, und der Urknall kann stattfinden.
Cosmic Disco auf dem Ammersee
Davor wird das Etwas aber noch mit Cosmic-Disco-Musik energetisiert. Möglicherweise enthält das graue Ding also die DNA von Giorgio Moroder, der Jahrmilliarden nach dem Urknall dann diese Musik per MTV auf die Menschheit loslässt. Oder ist dieses Etwas das von Kant in die Philosophie eingeführte „Ding an sich“, wie der Kreisbote vermutet (https://www.kreisbote.de/lokales/landsberg/schondorf-prolog-elle-kollektiv-entfuehrt-traumhafte-welten-13873053.html)? Vielleicht ist es auch das NEURALGISCHE (ein Anagramm des im Programm erwähnten GRAU LIESCHEN). Wir dürfen hier wild spekulieren, und eine Deutung ist wohl so gut wie die andere.
Die Sogkraft des Wassers
Ist das alles einfach „Esoterik-Öko-Klamauk“, wie es ein Freund von mir nannte? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Eingerahmt ist die überdrehte Slapstick-Action nämlich von zwei langen, ruhigen Szenen. Am Ende treten ein Dutzend Menschen an das Ufer und schauen still auf den Ammersee hinaus.
So haben auch wir, das Publikum, lange auf den See geschaut, bevor die Aufführung begann. Aber hatte sie da vielleicht schon begonnen? Gehört unser faszinierter Blick auf das Wasser mit zur Inszenierung? Der See hat unbestreitbar eine magische Sogkraft. Es muss tatsächlich etwas im Wasser sein, das unseren Blick immer wieder anzieht.
Placebo – It’s In The Water, Baby: https://youtu.be/zGxinPqnVFI
Vielen Dank an Yorck Dertinger http://yorckdertinger.com/, dass ich seine Photos für diesen Beitrag verwenden durfte.
Offenlegung: Als Veranstalter von Der Prolog fungierte der Verein kunstjetzt (https://kunstjetzt.de/), bei dem ich Mitglied bin. Ich war selber an der Organisation der Veranstaltung aber in keiner Weise beteiligt.
„Gehört unser faszinierter Blick auf das Wasser mit zur Inszenierung?“ – Ich meine, ja. Mit der Einbeziehung des Publikums wird da häufig gespielt, manchmal in einer Weise, die an dessen Verunsicherung grenzt oder diese Grenze sogar überschreitet. Der „Zuschauer“ als passiver oder als aktiver Teilnehmer? Eine eindeutige Antwort gibt es wohl nicht.